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DAS ECHTE GESPRÄCH · Giovanni Maio

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Gespräch als Basis des Heilens von Prof. Dr. Giovanni Maio

Das echte Gespräch ist etwas Besonderes und Kostbares. Es ist etwas Besonderes, weil sich etwas Besonderes ereignet, sobald zwei Menschen tatsächlich miteinander sprechen. Das Gespräch eröffnet die Chance, zu ganz neuen Einsichten, zu neuen emotionalen Ausrichtungen, zu neuen Dimensionen des Denkens zu gelangen. [...]

Das Gespräch kann verwandeln. Es verwandelt den Gesprächspartner in vielfacher Weise. Zunächst verwandelt das Gespräch dadurch, dass es ein Anerkennungsverhältnis stiftet. Die Ansprache eines Menschen hat immer eine anerkennende Wirkung, denn durch das Ansprechen wird der andere zu einem Jemand. Und so kann das Gespräch Ausdruck dafür sein, den anderen als achtenswerte Person zu sehen. Das Gespräch kann auf diese Weise eine Förderung der Selbstachtung herbeiführen, indem dem Patienten durch das Verstehen das Gefühl gegeben wird, dass er verstehbar ist und seine Gefühle eben verständlich sind. Er erfährt Wichtigkeit um seiner selbst willen, wenn man mit ihm spricht; er erfährt Wertschätzung durch die Leistung des Miteinandersprechens.

Die verwandelnde Kraft des Gesprächs besteht ferner darin, dass das Gespräch eine erleichternde, entlastende und reinigende Wirkung entfalten kann. Durch das Gespräch kann man das Belastende sozusagen wegerzählen und man fühlt sich dadurch befreiter.

Weiterhin kann das Gespräch dadurch verwandeln, dass es eine versöhnende, befriedende Wirkung entfaltet; solange man spricht, ist der Konflikt in der Sprache aufgehoben. Das Gespräch bringt das Eigentliche zur Sprache und wirkt allein dadurch konfliktlösend. Durch die verständigende Funktion des Gesprächs kann Übereinstimmung erzeugt und auch Gegensätze vereinigt werden. Das hat auch damit zu tun, dass miteinander sprechend eine Gemeinschaftsstimmung aufkommt, die für sich genommen zur Versöhnung disponiert.

Eine der zentralsten Wirkungen des Gesprächs ist die über das Gemeinschaftserleben induzierte Überwindung von Fremdheit. Man fühlt sich nach einem guten Gespräch weniger fremd in der fremden Welt des Krankgewordenseins, und auf diese Weise kann das Gespräch eine trostspendende Funktion entfalten, allein dadurch, dass man in eine Verständigungsgemeinschaft eingetreten ist. Gadamer hat das Gespräch als „eine Brücke über dem fließenden Strom der Andersheit“ beschrieben. Das Gespräch erkennt die Andersartigkeit des anderen an und schlägt doch eine Brücke darüber. Der verwandelnde Charakter des Gesprächs hat grundlegend damit zu tun, dass sprechend eine gemeinsame Welt gestiftet werden kann und dass es auf diese Weise im Grunde nichts Zusammenführenderes gibt als ein gutes Gespräch. [...]

Und wenn ein echtes Gespräch zustandekommt, dann kann es heilsamer sein als manches Medikament. Oder wie es Walter von Baeyer auf den Punkt brachte: «Wo echtes Gespräch zustande kommt, ist immer schon Therapie.»

Beitrag auf SWR2